Achim Raben: Misch Da Leiden ist ein Klassiker
Aber nicht wie der VW-Käfer, der Commodore 64 oder Yesterday von den Beatles, bei denen das Etikett Klassiker bis zum Überdruss Bekanntes kommerziell veredeln soll,
sondern ein Klassiker im Sinne jener humanistischen Haltung, über die immer wieder gern die eine oder andere Nase gerümpft wird. Dieser Haltung, die sich in einfachen Sätzen manifestiert: Goethes
Schlussworte der Iphigenie „Lebt wohl" - nicht Abschiedsgruß, sondern Aufforderung. Oder Schillers „Allen Sündern soll vergeben, Und die Hölle nicht mehr sein" aus der Ode an die Freude. Einer
Haltung, in der der Mensch, das Maß der Dinge ist und das richtige Leben das Ziel.
Das menschliche Maß im wörtlichen Sinne finden wir in Misch Da Leidens Bildformaten, weder bedrängen sie uns durch brachiale Monumentalität, noch locken sie uns, uns in endlos wuchernden Details zu
verlieren. Unser Blick erfasst sie in hinreichender Nähe und angemessener Distanz.
Doch ist Misch Da Leiden kein naiver Klassiker, der edle Einfalt und stille Größe in aufgewärmten Klassizismen sucht. Das wäre Propaganda oder regressiv oder beides. Seine Vorstellung des richtigen
Lebens entstammt der inzwischen auch schon wieder historischen, aber längst nicht obsoleten Moderne, der das Leben ein „beschädigtes" (Th. W. Adorno) ist.
Dass dies richtige Leben nur noch eine Ahnung sein kann, liegt daran, dass auch die Bilder des Lebens beschädigt sind: Wo einstmals Anmut und Würde marmorn zwischen dorischen Säulen ragten
(wenigstens konnte dies lange Zeit unwidersprochen behauptet werden), wütet längst die unsichtbare Hand des entfesselten Marktes und hinterlässt nur noch Abfall, Heruntergefallenes, Verstreutes, das
sich nicht mehr verscherbeln lässt. Es gibt keinen Bildfundus mehr, nur noch Bildschnipsel, Fragmente, Materialreste. Eine solche Wirklichkeit lässt sich auch nicht mehr abkonterfeien, ihr Abbild ist
nur noch als Montage möglich. Alles andere wäre Propaganda oder regressiv oder beides.
Das Heruntergefallene und Verstreute, also das Heterogene und die zerbrochenen Zusammenhänge bilden für sich genommen das Prinzip der Müllhalde, der Künstler wählt aus, ordnet an, fügt zusammen,
schafft Sinn. Dieser libidinöse Prozess des Gestagens lässt ein Bild des Lebens aus seiner Beschädigung heraus entstehen. Dieses montierte Bild kann in jeder Hinsicht düster sein, durchtränkt vom
Grau des Grauens, es kann aber auch eine unsentimentale Heiterkeit ausstrahlen, farbenfroh wie ein frisch gefüllter Kaugummiautomat. Die Libido leitet dabei nicht nur den künstlerischen Prozess, sie
durchformt ihn: Die Montage der Wirklichkeitsfragmente ist weit mehr als eine bloße Assemblage, die Montage beruht auf der Verwendung dessen, was Misch Da Leiden gern als visuelle Dialekte
bezeichnet: Von Ready-Made, Lackierung und Bild-/Textausriss über Siebdruckreproduktion, Collage, Zeichnung, Bande Dessinee, bis hin zur traditionellen Peinture (realistisch / expressiv / ornamental)
findet sich in Misch Da Leidens Werken eine erstaunliche Vielfalt von lustvoll in Hingabe an die Sinnlichkeit des Arbeitsmaterials genutzten Darstellungstechniken. Dass aus solchem Umgang mit dem
Material ein eigener Materialismus entspringt, ist weit mehr als nur ein Wortspiel.
Dabei sind seine Montagen niemals verspielt. Alles Selbstverliebt-Unverbindliche fehlt ihnen. Dies ist weniger Resultat einer persönlichen Vorliebe als Resultat einer langwierigen Konstruktions- und
Kompositionsphase, die allen Bildern vorausgeht.
Wer einmal Konzepte und Entwürfe zu Misch Da Leidens Bildern gesehen hat, weiß, dass es hier keinen Zufall und keine Willkür gibt, die Komposition ist sorgfältig ausbalanciert, die Konstruktion
geradezu ingenieursmäßig. Auch in dieser Sachlichkeit ist Misch Da Leiden Klassiker: Sein Ziel ist die tragfähige, solide Konstruktion, die den Menschen nützt und sie erfreut. Nichts ist ihm ferner
als Romantismen aller Art, seine Sinne verströmen sich nicht in irgend eine „Natur", sie öffnen sich dem, was ist. Niemals gleiten bei ihm süße Ahndungsschauer über Fluss und Flur dahin, bei ihm ist
eine Straßenbahnhaltestelle eine Straßenbahnhaltestelle und die hat ein gelbes Schild und da ist ein schwarzes „H" drauf. Es sind diese Alltagsartefakte, die ihn faszinieren, sie sind
Maschinenprodukte, Waren, dem Wüten der Unsichtbaren Hand entsprungen, aber sie markieren den Raum, in dem der Mensch das Maß der Dinge ist, in dem die Ahnung des richtigen Lebens noch nicht auf
gegeben werden muss. Deshalb ist Misch Da Leiden ein Klassiker.
Achim Raven, Januar 2012